Karin Reddemann: Dolfi

Dolfi

© Karin Reddemann

Die Hand war zärtlich. Und herrlich versaut. Jessica Stobermann, die schöne grüne Augen und eine hässliche Kartoffelnase hatte, kicherte vergnügt. Hielt sich dabei aber dezent die zerknüllte Papierserviette vor den Mund. Sollte ja nun keiner denken, sie sei bekloppt. Eine von diesen frustrierten Einsamen mit nächtelang angelesener Philosophenkacke und rot gerahmter Nickelbrille, die ihre Katze Muschi nennen und mit sich selbst sprechen und spielen. Jessica stopfte sich das letzte Stück Pfirsichcremetorte mit Apfelschnaps in den Mund und musste husten. Galt als Spezialität in Gottliebs Gutenmorgenkränzchen am alten Markt, schmeckte aber scheußlich. Sie hockte allein dort an diesem niedrigen Tischchen neben dem toten Fikus und wusste nicht, wohin mit ihren Beinen. Die waren zu lang. Dafür war ihr Oberkörper zu klein. Eine kleine dicke Kugel mit fünf fetten Atomen: Linke Brust, rechte Arschbacke, dicker Bauch, rechte Brust, linke Arschbacke. Eine boshafte Laune der Natur. Wären die Stelzen nicht, könnte der dämliche Kellner mit mir kegeln. Dachte Jessica böse und verfluchte dreimal schwarzer Sonntag den gelackten Idioten mit dieser unappetitlichen Zahnlücke, die er selbst wohl mächtig sexy fand, weil er sie permanent angrinste. Sein Grinsen bedeutete nicht: Ich würd’s Dir besorgen. Lass mich ran. Es bedeutete: Hättest Du wohl gern, dass ich es Dir besorge. Ich will Dich aber nicht.

„Ich will noch einen Martini“, sagte Jessica mit hochrotem Kopf, weil diese Unverschämtheit, auch nur ansatzweise anzunehmen, sie leide Not und habe ernsthafte Ambitionen, ihren klugen Kopf mit Zorn vereiterte. „Wie wünschen“, näselte der Kellner und bewegte sich rückwärts, um sie weiter angrinsen zu können. Genaugenommen war das kein ordentlicher Satz, aber sie sie wollte jetzt nicht streng analysieren, immerhin hatte sie auch „ich will“ und nicht „ich hätte gern noch“ gesagt, da waren sie jetzt wohl quitt. „Und Dich narzisstisches Pappgesicht will ich auf gar keinen Fall.“ Hätte sie ihm mit Leidenschaft hinterher gerufen, wäre ihr das nicht eindeutig zu blöd gewesen. Außerdem brauchte sie ihn und seinesgleichen tatsächlich nicht. Sie hatte die Hand. Jessica ließ ihre moosgrüne Lacktasche aufschnappen, die so phantastisch zu ihren Augen passte, obwohl das Quatsch war, denn sie trug das überteuerte Ding ja nicht am Ohr, wo es visuell deutlich besser harmoniert hätte. Sie lugte vorsichtig hinein. Aufatmen. Da lag sie. Natürlich lag sie da. Zwischen Brillenetui und Papiertaschentüchern hatte sie sich gemütlich eingeigelt. Das Messer gut versteckt. Süße schlaue Schlampe, Du.

Gut einen Monat war es her, dass Jessica Stobermann unter ihrem Bett verdächtige Geräusche gehört hatte, die dort klar nicht hin gehörten. Unter Betten und in Schränken ist es prinzipiell ruhig. Es sei denn, dort scharren Insekten oder Dämonen mit ihren Füßen. In diesem speziellen Fall war es eine Hand. Jessica, Hintern jung, Gesicht alt, weil sie offiziell viel wusste und heimlich trotzdem oder eben drum erstaunlich viel soff, ohne aufzufallen, war nicht sonderlich schockiert. Die korrigierten Arbeiten lagen gestapelt auf der pinkfarbenen Schreibtischunterlage neben der pinkfarbenen Mouse, den pinkfarbenen Babydoll hatte sie wieder ausgezogen, um unter der Bettedecke etwas nett zu sich zu sein. Das klappte nicht. Sie dachte an den nächsten Morgen und wusste nicht, was sie zur Sitzung anziehen sollte. Das neue Khakikostüm lag über der Stuhllehne, das würde sie wohl nehmen, dazu die pink gepunktete Bluse, auch neu. Alles neu, alles scheußlich. Die Farb- und Stilberaterin mit diesem unaussprechlichen Namen hatte ihr feines und fettes Rosa ans Herz gelegt, das kombinierte sie mit grellem und vermatschtem Grün, aber irgendwie fühlte sie sich nicht optimal beraten von Ischamjah Brzcswenszkowsja. Sie war blond, aber nicht göttlich blond, und ihre Haut sah aus wie frischer Emmentaler. Schwarz und rot mochte sie, aber die Brzcswenszkowsja hatte ihr das verboten. „Grosssse Gütte, nichnichnich, sieht sich schäbich an Ihn aus.“

In dieser Nacht war ihr übel vom Tokajer und von Tschechows Möwe. Zwanzig doofe Studenten, zwanzig Mal gequirltes Gekrakel über einen lausigen Vogel. Und das sollte sie gut finden. Sie ermahnte sich streng. Jessi, allerliebste Jessi, das ist Dein verdammter Job. Mach ihn. Nimm den Rotstift. Vernichte die Brut. Hatte sie mit angemessener Milde getan. Allesamt Sensibelchen. Sollten ruhig fliegen lernen. Würden früh genug aufs Pflaster klatschen. War jetzt fertig, lag dort nackt, konnte nicht schlafen, dachte an einen letzten süßen Schluck und hörte die Geräusche. „Hört sich schäbich unter Ihn an.“ Flüsterte sie leise vor sich hin, fühlte sich erheitert, war aber misstrauisch. Dieses Getrippel und Gewusel gehörte einwandfrei zu etwas höchst Lebendigem, das ihr Leben prinzipiell nicht mit ihr teilte. Sie krabbelte aus dem Bett, stieg auf die Knie, äugte, erstarrte, schrie vermutlich, was eh keiner hörte, krabbelte verstört wieder hinein und sage laut: „Kann nicht sein, darf nicht sein. Basta. Eeene meene muh, aus bist Du. Aus bist Du noch lange nicht, sag‘ mir erst wie alt Du bist.“ Fünf. Die Hand zeigte fünf kräftige Finger. Unberingt. Hübsch gefeilte Nägel. Dunkle Haare auf dem Rücken. Dezent gebräunt. Eine großartige Hand, der nur der dazugehörige Mann fehlte. Sie hockte auf der karierten Tagesdecke, musste wohl in einem Affenzahn heraufgekommen sein, zuckte mit dem Zeigefinger, verharrte höflich, wartete augenscheinlich auf eine Einladung. Die bekam sie. Jessica Stobermann war zu betrunken, um wahnsinnig zu werden. Und wurde für ihr Saufen aufs Höchste beglückt.

So einfach war das. Am nächsten Morgen wachte Jessica mit dickem Kopf auf und pelziger Zunge auf, verspürte augenblicklich schlechte Laune, weil sie arbeiten musste und nicht einfach weiter trinken konnte, und blinzelte die Hand an, die eingerollt auf dem zweiten Kopfkissen träumte. Irgendjemand hatte Jessica Klebstoff in die Augen geschmiert, sie konnte sie kaum öffnen. Dann fiel ihr ein, dass sie sich nicht abgeschminkt hatte. Wimperntusche zentnerweise, irgendwann würden sie abbrechen, alle, alle nicht mehr da, dann wäre es Zeit, sich umzubringen. Frauen ohne Wimpern sind tot. Dachte sie sachlich, wurde noch sachlicher: „Du bist gar nicht da. Wegwegweg.“ Die Hand rührte sich. Spreizte die Finger, knickte sie ein, spreizte sie erneut, als würde sie gähnen, sich recken und strecken, ein rührendes Bild, niedlich gar, wie sie sich jetzt in Bewegung setzte, sie liebevoll in die knollige Nase kniff, ihr über die vom Schlaf zerknitterten Wangen streichelte, weiter nach unten wanderte, die linke, die rechte Warze auf ihre besondere Art begrüßte, ihren dicken Bauch streichelte, die Pölsterchen massierte, emsig noch tiefer marschierte, in die Locken tauchte, dann tunkte, tanzte. So tanzen konnte Jessica selbst nicht. Jamaica, dachte sie. Jessica stöhnte. Ich muss mich rasieren, dachte sie, hab‘ ich schon Ewigkeiten nicht mehr gemacht. Muss ich. Mussmussmuss. Danach. Dann schlief sie wieder ein. Kam zu spät zur Sitzung, war besonders lieb zu ihren entzückend bescheuerten Studenten und freute sich über das, was war und sein sollte, obgleich es nicht hätte sein dürfen. Egal.

Jessica Stobermann nannte die Hand Rudolfo, Dolfi, streng genommen, das kam ihr flüssiger über die Lippen, und sie arrangierte sich ganz wunderbar mit ihr. Dolfi war gelenkig, erfahren und machte sie beide nass. Herrliche Zeiten waren das. Er schenkte ihr sogar Kaffe ein, gern auch Wodka, gab ihr Feuer, schlüpfte in ihren BH und ließ ihre Warzen nicht einnicken, während sie las oder aß oder sich einen Film ansah, von dem sie kaum die Hälfte mit bekam. Ihre Brüste sendeten weiter, und die Hand empfing ihre Nachrichten, ohne nachzuhaken. Sie gewöhnte es sich an, zuhause keinen Slip mehr zu tragen, das vereinfachte ihre liebenswerten Angewohnheiten. Dolfi knipste die Nachttischlampe aus. Und knipste sie wieder an. Dolfi gab. Dolfi brauchte nichts. Kein Klo. Kein Wort. Keine Rechtfertigung. Keine Erklärungen. Keine Nebenbuhler. Letztgenanntes erwies sich freilich als ein Problem. Nicht unbedingt nennenswert, aber Konny Tauwers Fast-Entsorgung war nicht eingeplant gewesen. Prof. Dr. Konrad Tauwer war ein verheirateter Kollege von Jessica, der sich ab und an ein verschwitztes Stündchen mit ihr gönnte. Sie hatte ihn stets machen lassen, weil ihr nichts eingefallen war, was dagegen gesprochen hätte. Als ihr schließlich was einfiel, war es zu spät gewesen. Die Hand hatte Konny mittendrin beinahe und endgültig die Luft abgedrückt. Konny lag fett und rosafarben auf Jessicas karierter Tagesdecke, sie hockte auf ihm mit geschlossenen Augen, weil er so hübsch nicht war, um ihn dabei anzuschauen, und während er unter ihr gekeucht hatte, musste Dolfi wohl kräftig zugedrückt haben. Grad noch rechtzeitig hatte sie Konny von Dolfis starken Fingern befreien können, und einzig dem schweren Rotwein war es zu verdanken gewesen, dass Konny Tauwer noch bis heute auf die Bibel schwören würde, dass Dr. Jessica Magdalena Stobermann, zu Recht ledig, da geisteskrank, ihn beim harmlosen Beischlaf ohne Plastik und Peitsche hatte erwürgen wollen. Nüchtern betrachtet wäre das auch nicht tragisch gewesen. Tauwer sagte nach jedem seiner sinnlosen Sätze „nich wah?!“ und roch nach Hamsterfutter. Er grinste wie Ferdinand Strümper, Jessicas Grundschullehrer, und dieses Grinsen war grundsätzlich genauso tot wie der schmierige Ferdi, der ihr immer mit der flachen Hand auf den Hintern gehauen hatte, was Lehrer nicht tun sollten, wenn sie von kleinen Mädchen nicht gehasst werden wollen.

Das Kapitel Tauwer war damit erledigt gewesen, er hatte sich in seinen scheußlichen Pepitaanzug geknotet und „Du bist ja gemeingefährlich!“ gebrüllt. Zweifellos nicht unbedingt sie. Das wurde Jessica Stobermann klar, als Dolfi Frank Stewerhoff die Kehle durchschnitt. Auch nicht einkalkuliert. Eine Woche vor Jessicas Besuch in Gottliebs Gutenmorgenkränzchen am alten Markt war sie auf einem Klassentreffen gewesen. Fünfundzwanzig Jahre Abiturjahrgang Schlingsdörfler Döblin-Gymnasium, gemischt. Alle verheiratet oder zweimal geschieden. Fotos von Rotzblagen und Einfamilienhäusern mit Pool und fettem Labrador in der Einfahrt. Jessica kochte vor Wut und erzählte, wie ungern sie den Doktortitel vor ihrem Namen erwähnen würde. Frank Stewerhoff, der Blödeste und Hässlichste von allen, klebte sich an ihre Fersen. Der hatte ihr damals immer den Stuhl unterm Hintern weg gezogen. Und gegrinst. Wie er gegrinst hatte. Und ihr immer wieder zu verstehen gegeben hatte, dass selbst er, blöd und hässlich, wie er war, Jessica Stobermann nicht anpacken würde. War nicht schade drum. Was wollte der besoffene Kerl sie auch partout zu ihrem Hotel begleiten? Legten sich beide kichernd ins Gras hinter der alten Pferdekoppel, fummelten wie verpickelte Teenager, wollten ficken wie ehrenwerte Erwachsene. Ging in die Hose. Ging an die Kehle. Dolfi hatte sich in der moosgrünen Handtasche versteckt, sich ein großes schönes Küchenmesser eingesteckt, es dann Frank Stewerhoff, der Jessica schließlich immer und immer nur verarscht hatte, in den miesen Hals gesteckt und darin herumgerührt, um es dann in einer eleganten Bewegung direkt durch die Kehle zu ziehen. Wie das zischte, sprudelte, was sich da auftat. Und wie wenig traurig Jessca das alles fand, die ihn dort im Gras liegen ließ und ins Hotel taumelte, denn gut getrunken hatte sie ja auch. Wie sie dann dort ihre moosgrüne Tasche wieder aufschnappen ließ und die blutverschmierte Hand halbherzig ausschimpfte. „Dududu, was machst Du denn?“ Eeene meene muh, aus bist Du. Konny Grinsekatz leider nicht, Frank Arschgesicht aber eben doch. Abgestochen? Na, von wem denn? Jessica war selig. Gut gemacht.

Sie knabberte an Dolfis Daumen. Ein Genuss. Wie sie schleckte. Leckte. Wie sie Dolfi zärtlich säuberte und unter die Bettdecke legte, um bei der Hand zu sein, der Süßen, um sie an, auf, in sich zu haben und nochmals zu säubern mit ihrer eigenen Feuchtigkeit. „Dududu, das machst Du nicht noch mal.“

Dochdochdoch. Als der grinsende Kellner mit ihrem Martini auftauchte, fiel ihr ein, dass es gut wäre, wenn der sie nie wieder so angrinsen würde. Dass es gut wäre, wenn er sich mit ihr gemeinsam betrinken würde, um ihn dann „Zumirzudir?“ fragen zu können. Aber sie ließ ihn, verließ Hand in Hand das Gutenmorgenkränzchen, ohne, dass einer sah, wie herzlich wenig allein sie war. Es würde andere geben. Sie kicherte: „Eene meene muh, und aus bist Du.“

*** ***

Kurzgeschichten von Karin Reddemann

*** ***

Stichwörter:
Kurzgeschichte, Karin Reddemann, Pickel, Brust, Bauch, BH